Luciola Italica
Hubertus von Amelunxen
in Antonio Panetta. Luciola Italica, 2013

„… manch Flämmchen brannte“
zu den Luciola Italica von Antonio Panetta

Es leuchten noch die Glühwürmchen. Sie bewegen sich feurig, schwirren erregt, gleichwohl organisiert durch die Luft und führen ihren Liebestanz alleine oder in Gemeinschaft auf einem mit Emulsion bestrichenen Papier aus, dem dunklen Grund, der das Licht trägt. Antonio Panetta hat sie in sein Buch, eine kleine, dunkle Schatulle eingeladen, als wären sie aus Dantes Hölle, wo sie einst als kleine Flämmchen schuldige Seelen umfingen, nun zutage gestiegen. Hier umhüllen und drängen sie keine Schuld, sie bewegen sich fort, um in ihrer Lichtspur Augenblick und Fortgang in einem zu beschreiben. Diese Glühwürmchen sind beileibe Lichtträger und glimmen sich in das Papier hinein wie Worte des Lichtes, die nicht zu sprechen, deren Bewegung aber Texte sind.

Man sagt, die Glühwürmchen würden verschwinden, man sagt, sie seien schon verschwunden und nur zu bestimmten Festen, wenn wir uns eine Zukunft ersehnen, erscheinen sie wieder. Pier Paolo Pasolini hatte im Februar 1975, wenige Monate vor seinem Tod, die Zeit zwischen 1945 und 1975 in die Zeit ‚vor’, ‚während’ und ‚nach’ dem ‚Verschwinden der Glühwürmchen’ eingeteilt und eine poetische Umschreibung für die Zeit des italienischen Faschismus der regierenden Christdemokraten gefunden. Die Glühwürmchen, flirrende Individuen selbsttätiger Eroberungen und freien Flugs, waren dem kollektiven Wahn des verordneten Konsums erlegen. Der französische Dichter und Photograph Denis Roche hatte als Hommage an Pasolini wenige Jahre nach dessen Tod sein Buch über den Akt des Photographierens La disparition des lucioles betitelt. Die kleinen erratischen Lichter, die früher auch die reisenden und suchenden Photographen gewesen waren, „aufgeklärte Glühwürmchen“, seien in einem großen Licht der Weltvergessenheit verschwunden, in der die Bildermassen dem singulären Glühen und Flimmern die Poesie geraubt hätten. Schließlich lässt Georges Didi-Hubermann dann jüngst die Glühwürmchen wieder erscheinen. In La survivance des lucioles beschreibt er das sprunghafte Aufglühen der kleinen Tiere, die eben nur zeitweise, pulsierend und vorübergehend leuchten, ganz wie das Bild der Geschichte nicht sich kontinuierlich bildet, nicht im Verlauf, sondern in Sprüngen, angehoben jeweils durch die sehende Neugierde des Einzelnen.1

Die Glühwürmchen von Antonio Panetta tragen das Erbe politischer Verzweiflung und der poetischen Ernüchterung weiter zu einer historischen Zuversicht, die wir den Flämmchen selber, ihren Tänzen, ihrer Freiheit und ihrer Liebestollheit verdanken. Sie glühen fort und überleben, so wir sie sehen wollen. Ihre Spuren auf seinen Bildern legen eine hüpfende Zeit nieder und setzen das Verbleiben in den Sprung. Auf diesen diaphanen Bildern, von denen ein jedes die Spuren der Anwesenheit in andere Konstellationen setzt, liegt der herausfordernde Widersinn von Geschichte als Photographie, von Photographie als Geschichte, nicht jener „eunuchischen“ Geschichte, gegen die schon Johann Gustav Droysen sich verwehrte, aber einem Werden, das in der Lust ohne Morgen in der Weite der Zeit und der Dichte des Augenblicks erglimmt. So fallen in Antonio Panettas besorgter Spurenlese dieser kleinen, zarten Lichter, der Luciola Italica, Bewegung und Spuren ineins und in dem Licht, das sie von sich gaben, ist jede Möglichkeit des kommenden Sprungs, der Abschattung und des Dunkels in neuem Licht gedacht.

„So wandelnd hier im Grund manch Flämmchen brannte,
Doch keins von allen seinen Inhalt zeigte,
Ob jedes einen Sünder auch umspannte.“

1 Pier Paolo Pasolini, “Von den Glühwürmchen”, in: ders., Freibeuterschriften. Die Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft, neu herausgegeben von Peter Kammerer, aus dem Italienischen von Thomas Eisenhardt, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1998, S. 104-112; Denis Roche, La disparition des lucioles, Editions du Seuil, Paris 1982; Georges Didi-Huberman, Survivance des lucioles, Les Éditions de Minuit, Paris 2009; Dante Alighieri, La divina commedia, XXVI. Gesang, aus dem Italienischen von Richard Zoozmann [1922], http://www.divina-commedia.de/ 

Correnti – Strömungen
Frizzi Krella
in Antonio Panetta. Luciola italica, 2014

Vor der Tiefe des Blaus, das fast ins Blauviolette übergeht, zeichnen goldene Linien, aus Punkten bestehend, dicht aneinandergereiht oder zu Perlenketten aufgefädelt, ihre Bahn. Hier und da tauchen aus dem Grund Lichtpunkte oder Leuchtmassen auf. Diese Bilder evozieren die Unendlichkeit des Kosmos, der Milchstraße.

Es sind vor allem die Qualitäten von Farbe und Licht, die in die Dimensionen der Malerei entführen – Farbübergänge und Nuancen, Dichte und Transparenz als Parameter der farbigen Belichtungen. Über Schärfe und Unschärfe baut sich der Raum des Bildes auf und schafft Tiefe. Ephemere Erscheinungen auf diaphanem Filmmaterial erzeugen Erinnerungsspuren, Gesten, die sich immer wieder wandeln. Der durchscheinende Charakter des Bildträgers macht sie gleichsam sinnlich wahrnehmbar.

Mit seinen Serien der Correnti (Strömungen), sowohl in Schwarz-Weiß als auch in Farbe, löst sich Antonio Panetta nicht nur von figürlichen Zusammenhängen, sondern greift auf eine ursprünglichere, unmittelbare Sprache zurück. Sie entstanden in mehreren intensiven Arbeitsphasen in den Jahren 2008 bis 2013.

Wenn Panettas photographische Notationen auch als abstrakte Bilder oder wie Partituren einer Lichtchoreographie gelesen werden wollen, schließen sie doch nicht aus, dass sich über die ästhetische Formensprache hinaus noch eine metaphysische Ebene öffnet. Dieser liegen literarische Vorbilder zugrunde, die von Dante bis Pasolini reichen.

Bei Dante erscheinen die Glühwürmchen im 26. Gesang der Hölle1 als Irrlichter menschlicher Seelen in all ihrer Schwäche, fahl und matt, oft grünlich schimmernd, wohingegen sich im Paradies das „große Licht in erhabenen konzentrischen Kreisen“ ausbreitet. In Pasolinis Text über das Verschwinden der Glühwürmchen kehren sich diese Verhältnisse komplett um: Nun ist es „die Hölle mit ihren zweifelhaften, überbelichteten Politikern“, die in hellstem Licht erstrahlt, und die „Widerständigen“ aller Art verwandeln sich in flüchtige Glühwürmchen. Im Nachsinnen über das Verhältnis „zwischen den kraftvollen Lichtern der Macht und dem fortlebenden Dämmerschein der Gegenmächte“ verliert Pasolini den Glauben an diesen Widerstand, wie es Georges Didi-Huberman in seiner jüngst erschienenen Schrift über das Überleben der Glühwürmchen schlussfolgert.2 Didi-Huberman widerspricht der düsteren Vorhersage Pasolinis von 1975: „Die Glühwürmchen sind nur aus dem Gesichtsfeld derer verschwunden, die nicht am richtigen Ort sind, um zu sehen, wie sie ihre Lichtsignale aussenden. Wir versuchen der Lehre Benjamins zu folgen, für den ein Niedergang kein Verschwinden ist.
Man muss den Pessimismus organisieren, sagte Benjamin. Und die Bilder – sofern man nur rigoros und unprätentiös über sie nachdenkt, sie beispielsweise als Glühwürmchen-Bilder denkt – öffnen einen Raum für einen solchen Widerstand.“ 3


Panetta studiert mit großer Behutsamkeit und Geduld die kompositorische Diversität der motorischen Intelligenz.4
Die Notationen, die dabei entstehen, lassen sich in zwei bildliche Kategorien einteilen: Zum einen Einzelpartituren, die uns eine Solochoreographie oder einen Pas de deux, vielleicht Pas de trois mit großen Kurven und Pirouetten oder schlichten Linien vorführen. Zum anderen Aufzeichnungen unterschiedlichster Bewegungsabläufe in einer sogenannten All-over-Struktur, die an Drip Paintings von Jackson Pollock erinnern.

Panetta treibt seine Methode zu neuen ästhetischen Erfahrungen voran und begibt sich mit den Sequenzen auf eine Entdeckungsreise – nächtlichen Individuen folgend, Wesen und Lichtgestalten, die ihre Bahn ziehen.

Die Correnti überraschen, und zwar zuallererst den Künstler selbst, nicht nur durch ihre bestechende Schönheit, sie zeichnen Strömungen auf, die Bewegungsabläufe sichtbar machen, welche dem menschlichen Auge sonst verborgen blieben.

Während der französische Physiologe Étienne-Jules Marey gezielt Strömungen der Luft, des Wassers oder des Rauchs bildlich untersuchte und chronophotographisch aufzeichnete, visualisiert Panetta unsichtbare Energien des Lebendigen, der Glühwürmchen: Bewegungslinien, zeitliche Änderungen ihrer Verteilung sowie Wechselwirkungen.

Die Bildlichkeit der Notation wird in diesem Zusammenhang als „visuelle Spur eines Formfindungsprozesses“ 5 verstanden, ist gleichsam Konzept und Idee in einem. Lichtspuren werden Erinnerungsspuren. Mit Pasolinis Worten: „Es war der einzige Weg, das Leben zu spüren, die einzige Farbe, die einzige Form: nun ist es zu Ende. Wir überleben: und es ist die Verwirrung eines wiedergeborenen Lebens, fern der Vernunft. Ich bitte dich, oh ich bitte dich: wolle nicht sterben.“6

1 Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, München 1995, XXVI. Gesang, S. 114–119.

2  Georges Didi-Huberman, Überleben der Glühwürmchen, München 2012, S. 12.

3  Ebd., Klappentext.

4  Motorische Intelligenz – so möchte ich es gern nennen in Anlehnung an György Ligeti, in: György Ligeti, Gerhard Neuweiler, Motorische Intelligenz. Zwischen Musik und Naturwissenschaften, Berlin 2007. (Die einzigartige motorische Intelligenz kennzeichnet Neuweiler durch die Fähigkeit, Handlungselemente in prinzipiell unendlichen Variationen zusammenzufügen.)

5  Angela Lammert, Von der Bildlichkeit der Notation, in: Notation. Kalkül und Form in den Künsten, Akademie der Künste, Berlin 2008, S. 39.

6  Pier Paolo Pasolini, Bitte an meine Mutter, 1963, in: Unter freiem Himmel, Berlin 1982.